Das Nervensystem wird überbewertet und trotzdem übergangen, so lautet eines der acht Unterkapitel aus dem Kapitel 13 ‚Ursachen für das Dehnwirrwarr‘ meines Textes Beweglichkeit (2013) und ich möchte hier in diesem Artikel nochmals etwas ausführlicher aufzeigen, weshalb diese Fehleinschätzung dazu führt, dass auf der ganzen Welt Menschen im Beweglichkeitstraining gegen ihr eigenes Nervensystem kämpfen, im Sport aber auch in der Rehabilitation und sich dabei unnötige Schmerzen zufügen.
Ich werde mich in diesem Artikel explizit auf ein Buch zum Thema Stretching beziehen, welches diese Fehleinschätzung meines Erachtens besonders deutlich verbreitet und meines Wissens sehr populär ist und damit einen grossen Einfluss auf die Denkweise vieler Menschen hat. Es ist dies das Buch Relax into Stretch von Pavel Tsatsouline (2001). Sie werden aber auch bei anderen Autoren lesen, dass das Nervensystem der entscheidende, zu beeinflussende Aspekt in einem Beweglichkeitstraining sein soll.
Zuvor möchte ich aber noch anmerken, dass ich die Arbeiten von Pavel Tsatsouline im Bereich Krafttraining und Gelenkgesundheit sehr schätze (Stichwörter: Kettlebelltraining, Power to the People, Super Joints). Ich bin einzig mit der Beweisführung und den daraus resultierenden Trainingsformen aus dem Buch Relax into Stretch nicht einverstanden und thematisiere hier nur diese.
Wie also sieht nun diese meines Erachtens unzutreffende Überzeugung aus und worauf wird sie abgestützt:
Falsche Annahme: Pavel Tsatsouline und andere Autoren gehen davon aus, dass wir Menschen in unserer Beweglichkeit nicht primär durch strukturelle Aspekte (strukturell verkürzte Muskeln & Bindegewebe) eingeschränkt werden, sondern vielmehr das Nervensystem unsere Muskeln nicht vollständig ausfahren lässt und es deshalb im Beweglichkeitstraining darum gehen wird das Nervensystem an grössere Bewegungsamplituden zu gewöhnen, um es nett auszudrücken.
Pavel Tsatsouline erklärt das wie folgt:
„Comrade, it is not short muscles and connective tissues that make you tight; it is your nervous system, ‘the muscle software’ that refuses to let your muscles to slide out to their true full length! A muscle with pre-Depression connective tissues and more scars than a prize fighter is still long enough to display as much flexibility as allowed by its associated joints. Master the muscular tension-and you will be as flexible as you want to be, at any age” (Tsatsouline, 2001, S.17).
Fehlerhafte Beweisführung: Wie kommt er zu dieser Einschätzung?
Tsatsouline begründet diese Überzeugung in seinem Buch vor allem mit Hilfe des folgenden Tests, welcher beweisen soll, dass das Nervensystem der entscheidende Faktor für die Beweglichkeitsbegrenzung sein soll.
Ich zitiere dazu die Testanleitung aus Tsatsouline (2001, S.15-17) und bitte Sie den Test gleich selbst an Ihnen durch zu führen, vorausgesetzt Sie sind im Moment noch nicht in der Lage einen Seitspagat zu machen:
“The traditional Western approach to flexibility has failed because it started with the assumption that muscles and connective tissues need to be physically stretched.
Other myths snowball from there. Hackers have a saying, ‘Garbage in, garbage out.’ If the premise is false, all the conclusions will be wrong, no matter how sterling is the logic leading up to them.
Let it sink in: the premise that you need to stretch if you want to be flexible is wrong.
Ugh? How can it be?
Try this test. Can you extend one leg to the side at a ninety-degree angle?
Your leg that is up on the table is now in the position for a side split. Now do it with the other leg:
So, what stops you from spreading both legs at the same time and doing what Americans call ‘the Russian split’ and Russian ballet dancers call ‘the dead split’?
No chuckles of ‘simulated understanding’, please, Comrade!
No, it has nothing to do with your ‘short muscles’.
Listen to this: no muscles run from one leg to the other. No tendons, no ligaments, nothing but skin. Like the wheels on your Land Rover, your legs boast independent suspension. That means you should be able to bring the other leg out at the same angle and do a split without stretching a thing.
So why can’t you?
Fear. Tension. The muscles tighten up and resist lengthening. Russian scientists call it antagonist passive insufficiency.
Based on your previous experiences- sitting all day or performing monotonous labor, or exercising incorrectly- your nervous system has picked the favorite length for every one of your muscles and prefers to keep it that way. Whenever you reach too far compared to this standard, the stretch reflex kicks in and reins your muscles in” (Tsatsouline, S.15-17).
Soweit die Theorie.
Und wie sieht es bei Ihnen aus, hat es auf beiden Seiten geklappt?
Dann haben Sie also jetzt den Beweis, dass Sie strukturell in der Lage sind einen Seitspagat zu machen. Wieso können Sie es aber nicht?
Vielleicht ist Ihnen bereits jetzt klar weshalb dieser Test kein Beweis dafür ist, dass Ihre Unfähigkeit einen Seitspagat zu machen durch Ihr Nervensystem verursacht wird, sondern dieser Test viel eher das Gegenteil aufzeigt, nämlich dass Sie momentan strukturell nicht in der Lage sind diese Körperhaltung einzunehmen.
Um nämlich das Bein seitlich in die Horizontale zu bringen findet nicht nur eine Bewegung im Hüftgelenk statt, sondern das gesamte Becken wird schräg gestellt. Wenn die Fussspitze nach vorne zeigt wird die Beckenkippung vor allem in der Transversalebene stattfinden, wenn die Fussspitze zum Himmel zeigt, wird das Becken vor allem in der Frontalebene (siehe Bild) rotieren. Zur Veranschaulichung der Beckenkippung habe ich in die Bilder jeweils eine rote Linie eingefügt:
Ich denke diese Linien verdeutlichen sehr offensichtlich, dass dieser Test eher das Gegenteil von dem beweist, was er beweisen sollte,denn da es nicht möglich ist gleichzeitig das Becken auf beiden Seiten schräg zu stellen (aua), wird es für diese Person auch nicht möglich sein einen Seitspagat zu machen.
Sehr anschaulich erklärt ihnen dieser weitreichende Irrtum das folgende YouTube-Video:
Ich weiss nicht ob Sie die Konsequenzen dieser fehlerhaften Beweisführung bereits erkennen, aber vielleicht wird es ersichtlich, wenn Sie die Auszüge aus zwei Buchrezensionen zum Buch ‚Relax into Stretch‘ gelesen haben. Wenn man nämlich dieser Philosophie folgt, dann geht man davon aus, dass man gegen sein eigenes Nervensystem kämpfen muss und ist dabei auch bereit Schmerzen zu ertragen:
„Ich habe dieses Buch mit grossem Interesse gelesen, da ich hoffte neue Tipps und Techniken zu erlernen (erlesen), um meine Gelenkigkeit zu verbessern, wird das Stretching doch gern vernachlässigt. Eines sei vorweg gesagt, es gibt auch hier keine Zauberformel, keinen leichten Weg. Im Gegenteil, wenn man sich genau an die Anweisungen hält, ist es das eine oder andere Mal eine recht schmerzhafte Erfahrung. Die Hauptaussage ist, dass es nicht die Sehnen oder Bänder sind, die zu kurz sind, sondern dass die Beweglichkeit durch einen Muskelreflex eingeschrängt wird, als so zu sagender Schutzmechanismus. Diese Schutzbarriere wir überwunden, indem man die entsprechenden Muskeln in der Dehnung auspowert, bis keine Muskelkontraktion mehr möglich ist. Der Autor gibt verschiedene Techniken an, um noch mehr aus dem eigenen Bewegungsapparat herauszuholen. Die Erklärungen sind logisch, doch bezweifle ich, dass sie nur durch lesen umgesetzt werden können“ (Gunsen, 2002, Quelle).
„Zum Buch, kann ich nur sagen, dass es all das verspricht, was man sich daraus erhofft. Effektive und gute Wege um seine Beweglichkeit und Vitalität zu verbessern.
Man sollte aber im vorhinein alles gut lesen und lernen, damit man Fehler beim Dehnen vermeidet und seine Gelenke nicht aus versehen dehnt.Ich jedenfalls kann es nur wärmstens empfehlen, flexibel zu sein hilft dem Körper, auch wenn der Weg dorthin schmerzhaft und grausam sein kann 😉 (Florian, 2013, Quelle)
Ich finde es sehr bedenklich, dass diese offensichtlich falsche Beweisführung seit über 10 Jahren dazu verwendet wird zu beweisen, weshalb wir im Beweglichkeitstraining das Nervensystem überwinden müssen und auf Grund dieser Fehleinschätzung tausende von Menschen gegen ihr Nervensystem und damit gegen sich selbst kämpfen.
Wenn Sie aber nicht bereit sind wie Florian einen schmerzhaften und grausamen Weg in Kauf zu nehmen, dann empfehle ich Ihnen meine anderen Blogbeiträge oder meinen Text Beweglichkeit zu lesen. Ich hoffe Sie werden mit einem neuen, erfreulicheren Menschenbild daraus hervorgehen.
Und falls Sie nun vielleicht denken, ja dieser Test ist zwar nicht optimal, aber Propriozeptive Neuromusukläre Faszilation ist trotzdem das Gelbe vom Ei führe ich jetzt noch einige klare Aussagen von Prof. Dr. J. Freiwald auf, dem Autor des umfassendsten, wissenschaftlichen Buch zu dieser Thematik im deutschsprachigen Raum:
„Die isometrische Kontraktion der folgend gedehnten Muskulatur soll eine ‚postisometrische Inhibition‘ der Muskulatur zur Folge haben. Dies ist aus physiologischer Sicht nicht nachvollziehbar (…)“ (Freiwald, 2009, S.231).
„• Es gibt keine kausalen Beziehungen zwischen Dehntechniken und elektrischer Aktivierung.
• Meist tritt eine elektrische Aktivierung dann auf, wenn der Sportler beginnt, Schmerzen zu spüren“ (Freiwald, 2009, S.241).
„Das Nervensystem ist äußerst komplex und bis zum heutigen Tag nur in wenigen Details verstanden. Daher sind vereinfachende Aussagen zur Wirkung einzelner Rezeptoren auf Bewegungen und Dehnfähigkeit der Muskulatur der Schwierigkeit des Themas nicht angemessen. Sie führen teilweise zu abwegigen Konsequenzen, z.B. bei der Entwicklung und Bewertung bestimmter Dehntechniken“ (Freiwald, 2009, S.112).
„Die Erregung einzelner Rezeptoren führen jedenfalls nicht – im Sinne eines längst überkommenen Behaviorismus(…) – zu gesetzmäßig definierten Reaktionen. Immer wieder wird berichtet, dass z.B. de Erregung von Golgi-Organen zur Hemmung der Muskulatur führt. Das ist falsch“ (Freiwald, 2009, S.113).
„Die Annahme, dass bestimmte Dehnungsmethoden quasi gesetzhafte, fest kalkulierbare physiologische Reaktionen (neuromuskuläre Aktivierungsmuster) nach sich ziehen, ist falsch!“ (Freiwald, 2009, S.231).
„• Spezielle Techniken zur Reduzierung der elektrischen Aktivierung der Muskulatur haben keinen Effekt – im Gegenteil. Fast alle so genannten ‚hemmenden Techniken‘ erhöhen die elektrische Aktivierung der Muskulatur“ (Freiwald, 2009, S.241).
Deutlicher kann man es meines Erachtens fast nicht ausdrücken.
Neben diesem einen Aspekt, welchen ich in diesem Artikel hier aufgeführt haben, finden Sie im Kapitel 13 meines Textes Beweglichkeit noch sieben weitere Gründe, weshalb meines Erachtens ein solches Wirrwarr im Bereich ‚Dehnen/Stretching‘ herrscht.
Abschliessend möchte ich noch anmerken, dass der Seitspagat meiner Meinung nach keine artgerechte, physiologisch sinnvolle Körperhaltung ist und ich deshalb diese Körperhaltung nicht erlernen möchte und auch nicht garantieren kann, dass diese Körperhaltung ohne Schmerzen erreichbar ist. Da die Fehleinschätzung im Zusammenhang mit diesem Seitspagattest aber auch Auswirkungen auf andere Trainingspraktiken hat, habe ich dieses Bewegungsmuster hier thematisiert.
Ich empfehle Ihnen auf Ihren Körper zu hören und dann ganz lange auf niemanden sonst, auch nicht auf mich.
Beweglichkeit durch Bewegung, denn Form folgt Funktion.
Tom
Quellen: beim Autor erhältlich.